Erdölreserven: Zahlenspiel mit Unbekannten
Experten gehen davon aus, dass die globalen Vorräte 40 Jahre und mehr reichen könnten. Zuverlässige Angaben gibt es aber nicht, „Zuverlässige Angaben über die noch vorhandenen Ölreserven gibt es nicht“, sagt etwa Rainer Wiek vom Energie Informationsdienst in Hamburg. „Die vorhandenen Kennzahlen sind mit Vorsicht zu behandeln. Sie werden von der Politik missbraucht. Bei Bedarf rechnen Förderländer ihre Reserven schon mal groß oder klein.“

Marion King Hubbert war ein Mann mit Prinzipien. Vom Berufsstand der Politiker hat der 1903 geborene amerikanische Geologe zeitlebens nicht viel gehalten. Er war Mitglied der Technokratischen Bewegung, die während der Zeit der Großen Depression in den 1930er Jahren in den USA viele Anhänger fand. Hubbert und seine Mitstreiter vertraten die fast revolutionäre Ansicht, dass Techniker und Wissenschaftler besser geeignet wären für das Gemeinwohl des Volkes zu sorgen als Politiker. Sie rüttelten damit an den Grundfesten der amerikanischen Demokratie. Doch beim Rütteln ist es geblieben.
Trotzdem schrieb Hubbert Geschichte: als der Wissenschaftler, der 1956 die Peak-Oil-Theorie aufstellte. Gemeint ist damit jener Zeitpunkt in der Geschichte, an dem die weltweite Ölproduktion ihr Fördermaximum erreichen wird und sich das Ende des Erdölzeitalters abzeichnet. Auch damit machte sich Hubbert nicht viele Freunde, vor allem nicht in der mächtigen amerikanischen Ölindustrie. Aber er behielt recht mit seiner Prognose, die US-Ölproduktion werde in den frühen 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichen. Wann die Weltproduktion ihren Scheitelpunkt erreichen wird, oder ob sie ihn schon erreicht hat, darüber wird heute heftiger gestritten denn je, auch darüber wie lange das Öl überhaupt noch reichen wird.
„Zuverlässige Angaben über die noch vorhandenen Ölreserven gibt es nicht“, sagt Rainer Wiek vom Energie Informationsdienst in Hamburg. „Die vorhandenen Kennzahlen sind mit Vorsicht zu behandeln. Sie werden von der Politik missbraucht. Bei Bedarf rechnen Förderländer ihre Reserven schon mal groß oder klein.“ Wiek geht jedoch wie der überwiegende Teil der Rohstoffexperten davon aus, dass die Versorgungslage erst in 40 bis 50 Jahren kritisch werden könnte. Bis dahin wird sogar noch mit einem deutlich Anstieg des Ölverbrauchs gerechnet. Ob die Produktion damit Schritt halten kann, hängt nicht nur vom Ölpreis ab, sondern auch von politischen Entscheidungen der Förderländer. Davon, ob sie ihre noch vorhandenen Reserven auch tatsächlich ausbeuten wollen. So ist der Abbau von Ölsanden wegen seines enormen CO2-Ausstoßes extrem klimaschädlich. Das Anbohren von Ölfeldern in der Arktis gilt als extrem gefährlich.
Seit Kurzem keimt die Hoffnung auf, dass die Karten im Rohstoffmonopoly doch noch einmal neu gemischt werden. Grund dafür sind Funde unkonventioneller Vorkommen in Schiefergestein und Ölsanden in Nordamerika oder schwer zugänglichen Regionen wie der Tiefsee oder der Arktis. Wie lange das Ölzeitalter dadurch verlängert wird, ist jedoch unklar. Unumstritten ist nur, dass der größte Teil der klassischen Ölfelder ausgebeutet ist. Das bestätigte die Internationale Energieagentur IEA im World Energy Outlook von 2010. Demnach wurde der Höhepunkt hier bereits im Jahr 2006 überschritten.
Doch was sind die Erfolgsmeldungen aus den USA und anderen Gebieten dieser Erde über neue, angeblich riesige unkonventionelle Vorkommen wert? Wie zuverlässig sind die Angaben, was davon tatsächlich zur Verfügung steht – und noch wichtiger: auch wirtschaftlich nutzbar ist. „Über das Potenzial unkonventioneller Vorkommen wie Ölschiefer wissen wir weltweit nur wenig. Es gibt erste Abschätzungen aber keine verlässlichen Bewertungen“, sagt Volker Steinbach von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover. Die meisten vermuteten Vorkommen müssten erst noch untersucht und bestätigt werden. Deshalb sind auch Schätzungen der USA, die in den nächsten Jahren ihre Produktion mit Ölschiefer deutlich ausweiten wollen, mit einem großen Fragezeichen versehen (Grafik). Die US-Energiebehörde EIA musste erst 2012 ihre Schätzung über die besser erforschten Schiefergasreserven des Landes um 42 Prozent nach unten korrigieren.
Dennoch stürzen sich Politiker und Industriebosse diesseits und jenseits des Atlantiks geradezu euphorisch auf steigende Zahlen zu Reserveangaben über noch vorhandene Ölvorkommen und verschieben das Ende des Ölbooms. Die maßgeblichen Statistiken dazu kommen von Organisationen wie der IEA, der EIA oder der Organisation erdölfördernder Länder, kurz Opec. Auch große Energiekonzerne wie BP veröffentlichen regelmäßig Daten über Produktion, Lagerstätten und Verbrauch. Häufig wird dabei jedoch nicht zwischen konventionellen und unkonventionellen Vorkommen unterschieden. Das mindert die Aussagekraft der Zahlen, weil die Ölgewinnung etwa aus Ölsanden länger dauert, viel Energie verschlingt und deshalb viel teurer ist als bei einem normalen Ölfeld.
Auch wenn die Statistiken der Institutionen zum Teil deutlich abweichen, so korrigierten zuletzt alle ihre Reservezahlen nach oben. Doch genau dieser Anstieg wird häufig falsch interpretiert. Der Begriff Reserven definiert die Menge an Öl, die zu aktuellen Ölpreisen technisch und gewinnbringend aus der Erde geholt werden kann. Wenn sich also der Preis wie in den vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt, treibt das in der Statistik die Reserveangaben nach oben. Eines bedeutet dieser Zuwachs aber ganz sicher nicht: nämlich, dass neue Vorkommen in entsprechender Größe entdeckt wurden. Die ebenfalls häufig angegebenen Ressourcen sind noch weniger zuverlässig, weil sie nur auf Vermutungen und Hochschätzungen beruhen.
Erhebliche Zweifel gibt es auch an Reservenangaben einiger großer Förderländer wie Saudi-Arabien. „Der wichtigste Öllieferant behandelt seine Daten wie ein Staatsgeheimnis, das nie von einer unabhängigen Stelle überprüft wird,“ sagt der Rohstoffexperte und Buchautor JörgSchindler. Tatsächlich stammen die Reserveangaben in den Statistiken von den Förderländern selbst und werden nicht von einer unabhängigen Stelle geprüft. Die Angaben einiger Opec-Länder wurden laut Schindler in den Achtzigerjahren beinahe über Nacht verdoppelt und später nie angepasst. Schindler hält die Reserveangaben mancher Opec-Förderländer schlicht für „orientalische Märchen“.
Erschienen am 5. Januar 2012 in der Süddeutschen Zeitung