Der große Irrtum
Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. In den Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP wird dieser Grundsatz missachtet. Ein Neustart der Gespräche wäre die beste Lösung. Denn in jedem Scheitern liegt die Chance, es besser zu machen.

Demonstranten sind in Brüssel nicht gern gesehen. Schon gar nicht, wenn sie gegen das umstrittene Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union protestieren. Als sich TTIP-Gegner im Frühjahr am Rande eines Treffens von hochrangigen Wirtschaftsvertretern und der EU-Kommission versammeln, fährt die Polizei schwere Geschütze auf. Mit Wasserwerfern löst sie die friedliche Demonstration auf. 250 Kritiker werden in Handschellen abgeführt, darunter sogar einige EU-Parlamentarier.
Genützt hat das brachiale Vorgehen freilich wenig. Im Gegenteil, inzwischen ist der Widerstand gegen das geplante Abkommen nur noch schneller gewachsen. Anfängliches Unbehagen hat sich bei so manchem Kritikern in radikale Ablehnung verwandelt. Gegner und Befürworter stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Lage ist verfahren. Fakten und nüchterne Argumente finden in der überhitzten Debatte kaum noch Gehör. Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen? Und: Wie kommt man aus dieser verfahrenen Situation wieder heraus?
Tatsächlich zeigt sich immer deutlicher, dass EU-Kommission und beteiligten Nationalregierungen – das gilt auch für die Bundesregierung – schon bei der Vorbereitung ein paar wirklich grobe Schnitzer unterlaufen sind. Und die gefährden nun das ganze Vorhaben. Der wohl größte Irrtum war es, ein Wirtschaftsabkommen von so gewaltiger Dimension über die Köpfe der Bürger hinweg zu beschließen und auf den zu Weg bringen. Rein formal ist am Verhandlungsmandat zwar nichts auszusetzen, alle Länder haben ihr Einverständnis für die Gespräche gegeben. Doch das allein reicht eben nicht.
[box] Bilanz der TTIP-Recherche: Mehr als 20 Videos, Reportagen, Interviews und Analysen hat die SZ-Redaktion von 9. bis 17. August auf Wunsch von Lesern recherchiert und zu einem Dossier rund um TTIP zusammengestellt. Zu verschiedendsten Aspekten, die von Lesern vorgeschlagen wurden: vom Investorenschutz über Fracking bis hin zu den Kampagnen von Gegnern und Befürwortern und einem Blick in andere Länder. hier geht es zu den Beiträgen[/box]
Es gibt auch eine moralische und demokratische Verpflichtung, die der Aufklärung. Mit dem transatlantischen Deal soll immerhin der mächtigste ökonomische Block der Welt entstehen, ein Abkommen mit geopolitscher Bedeutung. Da liegt es auf der Hand, dass sich damit die nicht nur der Wirtschaftkosmos verändern wird, sondern vermutlich auch andere Lebensbereiche von 820 Millionen Menschen in Europa und den USA. Dieser Wandel dürfte nicht nur Gutes bringen.
Eine ernsthafte Aufklärung über die Tragweite des Abkommens sowie seine Chancen und Risiken hat es aber aus Brüssel und Berlin im Vorfeld nicht gegeben. Erst recht keine öffentliche Debatte darüber, ob die Menschen ein Abkommen, das in erster Linie den Interessen der Wirtschaft dienen soll, so überhaupt wollen. Das sorgt völlig zu Recht für Unmut. Schließlich soll die Wirtschaft den Menschen dienen und nicht umgekehrt. So hat es einst Ludwig Erhard formuliert, früherer Bundeskanzler und Vater der Sozialen Marktwirtschaft. Doch wer soll das prüfen, wenn hinter verschlossenen Türen geschachert wird, Verhandlungspapiere strengster Geheimhaltung unterliegen?
Ein großer Fehler war es sicher auch, vor den Gesprächen nur die Wünsche von Großkonzernen und Branchenverbänden abzufragen, während Gewerkschaften, Sozialverbände, Umweltschützer und andere gesellschaftliche Interessengruppen erst gar nicht richtig konsultiert wurden, obwohl sie das Abkommen ebenfalls betrifft. Dieser schwere Makel lässt sich auch nicht durch die vielen Briefings wettmachen, die EU-Kommissar Karel de Gucht seit Beginn der Verhandlungen abhalten lässt. Diese Treffen dienen allenfalls kosmetischen Zwecken. Für eine wirkliche Einflussnahme auf die Gespräche ist es längst zu spät.
Unterdessen werden europäische und amerikanische Verhandlungsführer nicht müde, gebetsmühlenartig die vermeintlichen Vorzüge des Abkommens zu loben. Statt Fakten gibt es vage Versprechen über mehr Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Dass die prognostizierten Zuwächse aus der Nähe betrachtet äußerst gering ausfallen und zudem auf unzuverlässigen Rechenmodellen basieren, ist inzwischen bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, dass die ohnehin geringen positiven Effekte erst nach mehr als zehn Jahren voll zum Tragen kommen sollen. Negative Effekte könnten sogar zunächst überwiegen. Das zeigen die Erfahrungen mit früheren Freihandelsabkommen, die in der Regel immer mit einem Strukturwandel verbunden waren. In einigen Branchen brechen Arbeitsplätze weg, neue entstehen in anderen Sektoren, aber erst mit einiger gewissen Zeitverzögerung.

Risiken für die Exportnation Deutschland lassen sich nicht so einfach wegdiskutieren. Wichtige Branchen wie die Auto- und Chemieindustrie haben bereits in den vergangenen Jahren viele Arbeitsplätze nach Übersee verlagert, weil die Lohnkosten dort niedriger sind. Dieser Trend könnte sich auf einem gemeinsamen transatlantischen Markt durchaus verstärken. Firmen wie BMW, VW, Bayer oder BASF würden davon profitieren, weil ihre Arbeitskosten sinken. Das Nachsehen hätte jedoch die Belegschaften in Deutschland.
Genau diese Sorge treibt viele Beschäftigte hierzulande um. Sie haben den Glauben an Wachstumsversprechen verloren. Vor allem Normal- und Geringverdiener haben in den vergangenen Jahren schmerzhaft zu spüren bekommen, dass immer weniger Geld in die Haushaltskasse kommt. Ihr Wohlstand sinkt, trotz Wirtschaftswachstum. Sie profitieren also nicht mehr davon, dass die Umsätze und Gewinne von Unternehmen steigen – und das nicht erst seit der Finanzkrise von 2008. Das zeigt der Blick in die Statistik. Seit Anfang der Neunziger Jahre wachsen die Reallöhne deutlich langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Zugleich fressen wachsende Verbraucherpreise nicht nur Lohnzuwächse, sondern auch einen Teil des Grundeinkommens auf. Das Gefühl vieler Deutscher, dass sie sich inmitten einer schleichenden Wirtschaftskrise befinden, ist also nicht falsch.
Wer aber profitiert von den Zuwächsen der Wirtschaft? Es sind vor allem die Firmen und ihre Anteilseigner, von denen viele im Ausland, etwa in den USA sitzen. „Freier Welthandel und unbegrenzte Mobilität von Kapital und Arbeit sind nicht mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Nationalstaat vereinbar“, warnt etwa der früherere Harvard-Ökonom und Beststellerautor Dani Rodrick.
Fest steht: Mehr Wirtschaftswachstum bedeutet nicht automatisch auch mehr Wohlstand. Doch genau darauf kommt es an: Mehr Wohlstand für alle zu schaffen, das gehört zu den ursprünglichen Zielen des Freihandels. Die Liberalisierung des Handels wirke sich weniger auf die langfristige Wachstumsrate als vielmehr auf das Wohlstandsniveau aus, betonte einst der US-Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Samuelson. Die TTIP-Macher haben das Wohlstandsziel offenbar aus dem Auge verloren. Es ist ihnen nicht gelungen, Bürger davon zu überzeugen, dass das geplante Abkommen auch für sie und nicht nur für die Wirtschaft Vorteile bringt.
Bürger sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Eltern, Verbraucher, Patienten, vielleicht auch Umweltschützer, Theaterbesucher oder Vegetarier. Sie wollen Hort- und Kindergartenplätze für ihren Nachwuchs, gesicherte Renten, ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitssystem, gute Lebensmittel. Sie stehen hinter dem Atomausstieg, fordern aber auch bezahlbare Strompreise. Dass viele dieser Bedürfnisse mit den Interessen der Wirtschaft kollidieren, liegt in der Natur der Sache. Auf diesem Gebiet prallen auch zwischen den USA und Europa, besonders Deutschland, Welten aufeinander – amerikanischer Kapitalismus gegen die sozial ausgerichtet Marktwirtschaft Europas.
Viele Bundesbürger befürchten, dass gerade die sozialen Errungenschaften in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum auf der Strecke bleiben könnten, dass nationale Gesetze ausgehöhlt werden, wenn Konzerne Sonderrechte bekommen und vor privaten Schiedsgerichten klagen dürfen, etwa weil sie durch schärfere Umweltvorschriften ihre Gewinne gefährdet sehen. Ganz egal, ob die geschilderten Ängste nun übertrieben sein mögen oder nicht, fahrlässig wäre es, sie nicht ernst zu nehmen. Denn dann könnte sich aus dem Widerstand gegen TTIP eine Vertrauenskrise der Bürger in den Staat entwickeln – und das wäre am Ende viel schlimmer als ein Scheitern des Abkommens.
Die Protestwellen gegen TTIP oder TPP, ein Abkommen, dass die USA parallel mit den Pazifik-Staaten abschließen wollen, machen deutlich, wie Abkommen dieser Art in Zukunft nicht mehr verhandelt werden dürfen, wenn sie Erfolg haben sollen: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und geprägt von mächtigen Lobbygruppen. Dafür sind sie zu wichtig und tief greifend. Aufgabe des Staates ist es ja nicht nur, die Wirtschaft zu fördern, sondern die Bürger auch vor zu großer Wirtschaftsmacht zu schützen. Hier bedarf es einer starken demokratischen Kontrolle durch Parlamente und die Zivilgesellschaft – und zwar von Anfang an.
Das Problem: Ist die Maschinerie erst einmal in Gang gesetzt, lässt sie sich kaum noch stoppen, das zeigen nun die transatlantischen Gesprächen in aller Deutlichkeit. Ein Abbruch ist kaum möglich. Ist der Vertrag erst einmal ausgehandelt, sind auch Änderungen fast unmöglich. Es gibt dann nur noch die Möglichkeit, ihn als Ganzes anzunehmen oder abzunehmen. Bürgern und selbst den Abgeordneten des EU-Parlaments bleibt nicht mehr, als darauf zu vertrauen, dass die EU-Verhandlungsführer in ihrem Sinn agieren und keine Fehler gemacht haben.

Vertrauen ist zwar eine feine Sache, aber Kontrolle wäre in diesem Fall noch wichtiger. Denn ist das Abkommen erst einmal unterschrieben, gibt es kein Zurück mehr. Kündigen lässt sich solch ein Vertrag nur, wenn alle EU-Mitglieder dies auch mittragen – und das gilt als unwahrscheinlich. Bleibt noch die Möglichkeit, dass die Gespräche scheitern, weil sich beide Seiten nicht einigen können. Das ist zwar ebenfalls ein unrealistisches Szenario, wäre aber keinesfalls eine Katastrophe. Die Handelsbeziehungen zwischen der EU und den USA sind schon jetzt eng, und daran wird sich auch ohne ein Abkommen so schnell nichts ändern – und das Problem, dass Autos in den USA und Europa unterschiedliche Blinker benötigen, lässt sich auch anders lösen.
Wenn das geplante transatlantisches Wirtschaftsbündnis unter den jetzigen Bedingungen nicht zustande kommt, bedeutet das auch nicht das Ende des Freihandels. Ganz im Gegenteil. In jedem Scheitern liegt auch die große Chance, es besser zu machen. Angesichts des großen Widerstands in der Bevölkerung wäre es ohnehin besser, noch einmal ganz von vorn anzufangen, mit dem Ziel ein wirkliches faires Abkommen abzuschließen, von dem Unternehmen und Bürger gleichermaßen profitieren. Transparent geplant und von Anfang an offen diskutiert.
Die EU-Regierung sollte dann auch eigene Ziele definieren, an denen sich die Wirtschaft orientieren kann, etwa Ziele für bessere Arbeits-, Sozial-, Klima- und Umweltstandards. Öffnungsklauseln sollten es zudem Drittstaaten wie China ermöglichen, sich ebenfalls zu beteiligen. Ein solches Abkommen hätte Vorbildcharakter für andere Verträge. Es könnte sogar neue Impulse für die ins Stocken geratenen Bemühungen um eine Welthandelsordnung setzen.
Was die Welt nicht braucht, ist ein Abkommen, mit dem sich die alten Industrienationen, die an Einfluss verlieren, gegen aufstrebende Nationen wie China, Brasilien oder Entwicklungsländer abschotten. In einer globalisierten Welt, in der die Rohstoffe für Smartphones aus Afrika kommen, Geräte in China zusammengebaut und dann von großen Konzernen in den USA und Europa vertrieben werden, ist das auch aus ökonomischer Sicht falsch.
Das zu erkennen, wäre eigentlich nicht schwer, doch es braucht Mut, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Langfristig wird daran kein Weg vorbei führen, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Denn eine gerechtere Weltwirtschaft leistet auch einen entscheidenden Beitrag, wenn es darum geht politische und soziale Konflikte zu entschärfen. Wenn nicht die großen Wirtschaftsmächte damit anfangen, wer soll es dann tun?
Dossier zum Thema Freihandel: weiterlesen…
Eine gekürzte Fassung wurde am 16. August 2014 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.