Sofies verkehrte Welt

Gespaltene Welt: Der Globalisierung fehlt die Gerechtigkeit

Die Zweifel am freien Handel wachsen – und damit an der Globalisierung.  Durch den schrankenlosen Verkehr von Waren und Kapital ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstanden. Die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Freier Handel braucht faire Regeln, schon allein um des Friedens Willen.

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Grenzenloser Warenaustausch. Nicht alle profitieren davon. Illustration/Foto: sia/iStock.com

Der Systemfehler: Vom wachsenden Wohlstand profitiert nicht alle
Das Problem: Wachstum allein nützt nichts, wenn es keine Gerechtigkeit gibt
Die Lösung: Freie Handel braucht faire Regeln – heute mehr denn je

Eigentlich soll sie Wohlstand für alle schaffen, doch die Globalisierung ist in Verruf geraten. Viele der in sie gesetzten Hoffnungen haben sich nicht oder nur teilweise erfüllt. Die Kluft zwischen arm und reich wächst. Dass es einen Zusammenhang zwischen politischen Konflikten, Armut und sozialer Benachteiligung gibt, machen Flüchtlingsströme und die Krisen im arabischen Raum, in Afrika aber auch in Europa, etwa in Griechenland oder Spanien, deutlich. Immer mehr Menschen wehren sich gegen diese Ungleichheit. Sie fordern eine gerechtere Weltwirtschaft.

Doch wie genau lässt sich Gerechtigkeit definieren oder gar bemessen? Philosophen zerbrechen sich darüber seit Jahrtausenden den Kopf. Jeder einzelne Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens dazu seine ganz eigene Vorstellung.

Die Industrie bekommt Rabatt auf den Strompreis. Dafür zahlen Verbraucher mehr.   Foto: sia
Die Textilindustrie profitiert wie kaum eine andere Branche von fatalen Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern. Foto: sia

Folgt man der ökonomischen Theorie, dann sind die Dinge ganz einfach: Vom schrankenlosen Handel profitieren immer beide Seiten, weil er automatisch mehr Wohlstand für alle bringt. Wären die Dinge wirklich so einfach, gäbe es vermutlich keinen Widerstand gegen die Globalisierung oder das TTIP-Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union und andere Abkommen dieser Art. Aber die Proteste nehmen zu. Denn auch bei vielen Deutschen wächst die Angst, dass sich die Wohlstandsversprechen für sie nicht erfüllen.

Wirtschaftsliberale Kräfte machen für dieses Misstrauen eine stärker werdende antiglobale Stimmung verantwortlich. Sie halten den Kritikern vor, dass Deutschland mehr als jedes andere Land von der Globalisierung profitiere – ein Argument, so zynisch wie entlarvend. Bedeutet es doch, dass es keinen Grund gibt, am Segen der Globalisierung zu zweifeln, solange wir in Deutschland nur mehr profitieren als die anderen Länder. Solches Denken ist blanker Egoismus. Dass die Globalisierung nur dann ein Erfolgsmodell sein kann, wenn sie die Welt nicht in Gewinner und Verlierer aufteilt, haben viele Menschen inzwischen verstanden. Nicht Stimmungen sind das Problem, sondern der große Fehler im System: Es fehlt an Gerechtigkeit.

„Die Märkte haben eindeutig nicht so funktioniert, wie es ihre Anhänger behaupten.“

Zu den großen Widersprüche der Globalisierung gehört, dass Waren und Kapital über Grenzen hinweg frei beweglich sind, Arbeitskräfte dagegen nicht. Das gilt vor allem für das Gros der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Eine Näherin aus Bangladesch kann sich nicht einfach in einem anderen Land hinter die Nähmaschine setzen, obwohl sie dort vielleicht besser verdienen könnte. Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen bedeuten unüberwindbare Hindernisse, sie sind die gläsernen Wände der Globalisierung.

Einer, der eindringlich vor den Schattenseiten der Globalisierung warnt, ist der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz: „Die Kluft zwischen dem, was unsere ökonomischen und politischen Systeme leisten sollen, und dem was sie tatsächlich leisten, ist so groß geworden, dass man sie nicht mehr ignorieren kann.“ Die Regierenden hätten es versäumt, eine hohe Arbeitslosigkeit und die Exzesse an den Kapitalmärkten entschieden zu bekämpfen, kritisiert er. „Die Märkte haben eindeutig nicht in der Weise funktioniert, wie es ihre Anhänger behaupten“, sagt Stiglitz.

In der Armutsfalle sitzen vor allem weniger entwickelte Länder. Viele Menschen dort würden vielleicht sogar sagen, dass es ihnen schlechter geht, als zu Beginn der großen Globalisierungswelle in den Achtzigerjahren. Eine Aussage, die nur scheinbar im Widerspruch steht zu den glänzenden Wachstumsraten, die Länder wie Indien, Pakistan oder Kenia in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren vorgewiesen haben. Ja, es stimmt, die Leistungskurven der Wirtschaft zeigen deutlich nach oben. Dabei wird jedoch übersehen, wie wenig sie über das Wohl des Einzelnen aussagen.

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Wachstumskurven sagen wenig über den Wohlstand der Bevölkerung aus. Eine Straßenszene aus Goma im Kongo. Foto: tayna

Wer wissen will, ob sich die Lebensbedingungen der Menschen wirklich verbessert haben, muss Einkommensverteilungen, Arbeitslosenquoten, Lebensmittelpreise und Inflationsdaten analysieren. Doch in vielen Entwicklungsländern werden solche Daten gar nicht oder nur lückenhaft erfasst. Zahlenmaterial gibt es oft nur aus dritter Hand, etwa vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und – was die Wenigsten wissen – vom amerikanische Geheimdienst CIA, eine durchaus umstrittene Quelle, weil sie von politischen Interessen gesteuert ist. Der Blick in die trostlosen Slums von Mumbai und anderer Megacities spricht da eine viel deutlichere Sprache: Das Elend dort zeigt, dass es keinen Anlass gibt, sich mit steilen Wachstumskurven zufriedenzugeben.

Gerade in ärmeren Ländern verschwindet zudem ein großer Teil der erwirtschafteten Gewinne in den Taschen einer korrupten Regierungskaste oder einiger weniger Superreicher, während die Armut in der Bevölkerung wächst. Ein Beispiel dafür ist Nigeria. Sein Ölreichtum macht das Land zu einem der reichsten Afrikas. Wer sich aber in den Öl-verseuchten Küstenregionen oder den Armenvierteln von Lagos umschaut, dem wird schnell klar, dass die Öl-Dollars hier nicht ankommen.

Und dann gibt es da noch die Zahlen, die in keiner Wirtschaftsstatistik zu finden sind, wie etwa den globalen Sklaverei-Index der australischen Nichtregierungsorganisation Walk Free Foundation: Knapp 30 Millionen moderne Sklaven gibt es demnach weltweit, so viel wie noch nie in der Geschichte. Sie schuften in Kohleminen, auf Baustellen oder Äckern, pflegen Alte und Kranke, putzen Häuser oder bieten sich auf dem Straßenstrich an. Die Globalisierung kennt keine Moral. Sie hat die Produktion von Waren zu einem Wanderzirkus gemacht, der überall dorthin zieht, wo es billiger ist zu produzieren, ganz egal wie die politischen Verhältnisse dort sind oder Arbeitskräfte ausgebeutet werden.

Das Geschäft vieler internationaler Konzerne beruht darauf, in Billiglohnländern zu produzieren. Ein anderes Wirtschaften lasse der Wettbewerb nicht zu, heißt es in vielen Branchen. Wie fatal die Arbeitsbedingungen sind, interessiert Manager in der Regel nicht. Auch Verbraucher nehmen oft nur dann Notiz, wenn bei einem Brand in einer Textilfabrik wieder Duzende Näherinnen den Tod finden.

Ethische Grundsätze spielen keine Rolle. Man darf sich nur nicht erwischen lassen, wie vor kurzem die schwedische Möbelhauskette Ikea. Sozial und umweltfreundlich will das Unternehmen sein, Design zu kleinen Preisen anbieten. Dass Ikea eine seiner meist verkauften Kommoden ausgerechnet in Weißrussland, einem Land mit einem totalitären Regime herstellen lässt, sollte eigentlich niemand wissen. Stattdessen stand Litauen als Herkunftsort auf der Verpackung, obwohl das Möbel dort schon länger nicht mehr produziert wurde, weil das in Weißrussland billiger geht. Fälle wie diesen gibt es viele. Bekannt werden die wenigsten. Geschieht es trotzdem, ebbt die Empörung bei entrüsteten Käufern in der Regel schnell wieder ab.

Noch undurchsichtiger als Warenströme sind die verschlungenen Wege des Kapitals. Das spiegelt der Globalisierungsindex wider, den die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich veröffentlicht. Er misst die wirtschaftliche, soziale und politische Dimension der internationalen Wirtschaftsverflechtungen. Dass ausgerechnet Belgien, Irland und die Niederlande das Ranking von 2014 anführen, überrascht, Exportweltmeister Deutschland steht nur auf Rang 26. Die drei EU-Länder haben keine so ausgeprägte Industrieproduktion, dafür zählen sie zu den gefragten Steueroasen in der Europäischen Union. Viele internationale Konzerne haben dort eine Niederlassung, durch die sie ihre Gewinne schleusen – Gewinne, die sie unter anderem in Billiglohnländern abschöpfen, wo sie von niedrigen Sozial- und Umweltstandards profitieren.

Viele Konzerne enthalten der Gesellschaft die Steuern vor, die ihr eigentlich zustehen

Das Ranking liefert einen Hinweis darauf, dass der Kapitalstrom die wohl stärkste Antriebskraft der Globalisierung ist. Eine Macht, die kaum zu bändigen ist. Länder, die Unternehmen mit niedrigen Steuern anlocken, machen sich zum Handlanger von Finanzinvestoren und sind Teil einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie von Kapital. Der Gesellschaft werden so die Steuereinnahmen vorenthalten, die ihr zustehen und dringend benötigt werden – Steuereinnahmen, mit denen der Staat Renten, Sozialleistungen, Bildung und vieles mehr finanzieren kann, also all das, was notwendig ist, um den sozialen Frieden zu erhalten und gerechte Lebensbedingungen zu schaffen.

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Die internationalen Kapitalströme sind undurchsichtig und kaum zu kontrollieren. Foto: sia

Dass solche Steuermodelle auch noch als legal gelten, gehört zu den größten Ungerechtigkeiten. Ein gutes Steuersystem muss die Abgabenlast fair verteilen, auch auf globaler Ebene. Doch davon ist die Weltwirtschaft weit entfernt, solange es keine international gültigen Regeln gibt – und die sind nicht in Sicht. Das macht auch die Bekämpfung von künftigen Finanzkrisen so schwierig. Der Schaden, den sie anrichten können, ist umso größer. Die Finanzkrisen der vergangenen Jahre, etwa die von 2008, haben gezeigt, dass solche Exzesse gerade schwächere Ländern härter trafen als jene, von denen die Krisen ausgehen. Steigende Lebensmittel- und Energiepreise schlagen viel stärker durch und treffen die Menschen umso härter.

Entgegen aller Versprechen hat die Globalisierung nicht dazu beigetragen, die Kluft zwischen arm und reich zu beseitigen. Es fehlt die Gerechtigkeit. Freihandel und Globalisierung sind in Verruf geraten, weil sich die Gier nicht zähmen lässt.

Die Vordenker des Freihandels hatten sich das freilich anders vorgestellt: Freihandel sollte nach ihrem Willen nicht bedeuten, dass die Stärkeren immer und überall ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen dürfen. Die liberale Grundidee des Freihandels, wie sie die Ökonomen Adam Smith und David Ricardo entwickelt haben, ist umfassend und sozial angelegt. Demnach soll der Handel auf der Basis einer freiheitlichen Ordnung und der Menschenrechte stattfinden. Nur dann kann eine effiziente Arbeitsteilung mehr Wohlstand für alle bringen.

Deshalb braucht der freie Handel mehr denn je faire Regeln. Dazu gehören ein transparenter Kapitalmarkt, ein gerechtes Steuersystem und humane Arbeitsbedingungen. In einer Welt, die immer stärker zusammenwächst, sind solche Regeln unverzichtbar, schon allein um des Friedens Willen.

 

Erstmals veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 10./11. Januar 2015

 

 

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