Sofies verkehrte Welt

Von Humboldt lernen

Die Klimakrise erfordert schnelles Handeln, doch noch nie war die deutsche Politik so zauderhaft und rückwärtsgewandt. Für den Wandel braucht es Mut – und ein starkes Umweltministerium.

Foto: sia

Gern schmücken sich deutsche Spitzenpolitiker mit Alexander von Humboldt. Schließlich gilt er als einer der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit. Heute scheint sein Werk zeitgemäßer denn je zu sein, war er doch einer der ersten Naturschützer, der die Klimafrage stellte – und das bereits vor 200 Jahren. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spart nicht mit Lob. Für sie sei der Forscher eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten und Weltbürger obendrein. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagt: „Humboldt heute, das heißt für mich, für freiheitliche Werte und Überzeugungen – gerade in der Wissenschaft – einzustehen.“

  Das sind schöne Worte, mehr aber auch nicht. Die Realität in der deutschen Umwelt- und Klimapolitik ist eine andere: mutlos und rückwärtsgewandt. Fast gewinnt man den Eindruck, Humboldt und sein Forschergeist hätten nie existiert. Dass der Mensch eine Bedeutung in der Natur und eine Verantwortung für die Natur hat, war eine seiner wichtigsten Erkenntnisse, doch sie wird allzu oft ignoriert.

  Noch nie schien die Lage so dringlich und die Klima- und Umweltpolitik zugleich so zauderhaft und unentschlossen zu sein. Das Paradoxe an der Situation: Während die Probleme in den vergangenen Jahren immer größer wurden, schrumpften die Kompetenzen des Bundesumweltministeriums immer mehr. Dabei ist das Erreichen der Pariser Klimaziele auch für Deutschland keine Option, sondern ein Muss, wenn sich die Menschheit selbst den Gefallen tun will, die eigenen Lebensgrundlagen zu erhalten. Doch es geht viel zu langsam voran, auch auf anderen Baustellen. Weil etwa die Landwirtschaft weiter das Grundwasser mit Gülle verschmutzen will, drohen Strafen von der EU in Höhe von 300 Millionen Euro jährlich. Geld, das besser in einer ökologischen Agrarwende angelegt wäre. Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) lässt neue giftige Pestizide zu, wider besseres Wissen und befördert so den Artenschwund. Reißt Deutschland die Latte bei den CO&sub2;-Emissionen, wonach es derzeit aussieht, muss es Verschmutzungsrechte teuer zukaufen. Obwohl dies ein schnellerer Ausstieg aus der Kohleverstromung verhindern könnte.

  Doch es fehlt der politische Wille, das Richtige zu tun. Auch weil das Umweltministerium wenig zu melden hat. Die wichtigen Entscheidungen für die Umwelt werden im Wirtschafts-, Finanz- oder Agrarressort getroffen. Hätte das Umweltministerium mehr Gewicht, vielleicht würden viele Deutschen heute schon E-Autos fahren und die Landwirtschaft wäre natur- und tierfreundlicher. Wie konnte es überhaupt so weit kommen?

  CDU und CSU haben offenbar vergessen, dass sie den Umweltschutz unter Bundeskanzler Helmut Kohl oben auf die Agenda gesetzt haben. „Umweltschutz ist neben der Vermeidung kriegerischer Konflikte die wichtigste Aufgabe der Menschheit in den nächsten Jahren“, sagte der CSU-Politiker und damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann am 14. Oktober 1982 im Deutschen Bundestag, einen Tag nach Kohls Regierungserklärung.

  Vier Jahre später entstand im Bann der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl das Bundesumweltministerium. Dessen zweiter Chef hieß Klaus Töpfer. Sieben Jahre prägte der CDU-Mann das Amt. 1988 sprang er in die Fluten des Rheins, um zu zeigen, dass Deutschlands wichtigster Fluss nach Chemieskandalen und Fischsterben sich wieder erholt hatte, dank strenger Umweltauflagen. Die Regierung Kohl legte sich mit der Autoindustrie und Energiewirtschaft an, um europaweit höhere Umweltstandards durchzusetzen.

  Kohl war es auch, der Angela Merkel später zur Umweltministerin machte. Und er versprach schon in den Neunzigerjahren, dass Deutschland seine Emissionen bis 2005 um ein Viertel im Vergleich zu 1990 senken werde, freilich ohne zu wissen, wie das gehen kann. Ohne Deutschland wäre das wichtige Kyoto-Protokoll, in dem die Industrieländer erstmals verbindliche Zielwerte für Treibhausgase festlegten, vermutlich nicht zustande gekommen.

  Als der Grüne Jürgen Trittin Umweltministerin Merkel ablöste, ging es weiter voran. Unter Rot-Grün wurde erstmals ein Atomausstieg beschlossen, dazu kamen Ökosteuern auf Kraftstoffe sowie das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Trittin rang dem Wirtschaftsministerium das Sagen bei Solar-, Wind- und Wasserenergie ab. Ein Schritt, der als Beschleuniger der Energiewende gilt, eines der wenigen Erfolgsmodelle der vergangenen Jahre, das die Politik in Sachen Umwelt und Klima vorweisen kann.

  Nach 2005 ging es bergab für das Umweltministerium. Ausgerechnet Angela Merkel, damals noch liebevoll als Klimakanzlerin bezeichnet, hat ihn befördert. 2007 und 2008 galt es, Banken und Finanzsektor zu retten. Umwelt- und Klimaschutz schienen nicht mehr so wichtig zu sein. Politische Fehlentscheidungen vernichteten die deutsche Solarindustrie und bremsten die Elektromobilität. Merkel wärmte nach der Fukushima-Katastrophe Trittins Atomausstieg auf, um im Gegenwind der Energiekonzerne gleich wieder ein Stück zurückzurudern. 2013 entwand das Wirtschaftsministerium dem Umweltressort die erneuerbaren Energie wieder.

  Heute gleicht der Zuschnitt des Umweltministeriums wieder dem vor 20 Jahren. Egal ob Pestizide, Dieselskandal oder Gewässernotstand, das Umweltministerium kann mit seinen Bedenken jederzeit von anderen Ressorts überstimmt und ausgebootet werden, wie etwa bei der Neuzulassung von Glyphosat. Das muss sich ändern. Ein wirksames Umweltressort braucht mehr Mitspracherechte und Entscheidungsmacht.

 Beschämend ist im Rückblick, dass die Bundesregierung nach dem Kyoto-Protokoll mehr als 20 Jahre gebraucht hat, um ein Klimaschutzkabinett einzuberufen, das im April erstmals tagte. Es soll den Kampf gegen die Erderwärmung forcieren, mit konkreteren Zielen für Landwirtschaft, Verkehr, Energiesektor, Industrie und andere Bereiche. Im Raum steht die Drohung, dass ein Ministerium, das seine Ziele nicht einhält, Klimastrafen künftig aus dem eigenen Etat begleichen muss.

  Schon jetzt zeichnet sich aber das übliche Parteien-Hickhack ab. Der Plan von Umweltministerin Svenja Schulze für ein Klimaschutzgesetz ist heftig umstritten. Die SPD-Frau soll es nun richten, während sich die Kanzlerin diskret im Hintergrund hält. Dabei wäre diese diffizile Aufgabe ganz klar Chefsache.

  Aus dieser Misere führt nur ein Weg: Die Politik muss mehr Humboldt wagen. Sie muss endlich ihre Angst vor den Wählern überwinden. Sie muss den Mut aufbringen, entschlossen anzupacken und auf kleinkarierte Machtgeplänkel verzichten. Unbequeme Aufgaben wie der Ausstieg aus der Kohleverstromung, die Verkehrswende oder eine verträglichere Landwirtschaft müssen rasch erledigt werden.

  Auch Humboldt hat sich nicht gemütlich zurückgelehnt und gewartet, dass ihm Ergebnisse in den Schoß fallen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kämpfte er sich unter schwierigsten Bedingungen durch unerforschte Gebiete in Amerika, Südamerika, stieg auf Berggipfel, durchquerte Regenwälder und Wüsten. Auf halbem Weg umzudrehen, das war nicht sein Ding. Mit seinem „Naturgemälde“ schuf er die wohl erste Infografik der Welt. Sie zeigt einen Querschnitt des Chimborazo in Ecuador, der damals als höchster Berg der Erde galt. Er zeigt wie Pflanzenwelt und klimatische Bedingungen zusammenhängen.

  Humboldt war zugleich ein Mann mit Wirtschaftsexpertise. Er arbeitete jahrelang als Assessor in einer der Schlüsselindustrien seiner Zeit: dem Bergbau. Er sah die Folgen, die Abholzung von Wäldern, etwa in den Tälern Araguas, die heute zu Venezuela gehören. Der rücksichtlose Raubbau durch die spanischen Eroberer führte erst zu Überschwemmungen und Erosion, dann zu Trockenheit, die Ernten vernichtete, was die Menschen dort ins Elend stürzte. Für Humboldt war klar: Wohlstand und der Schutz von Naturressourcen bedingen einander.

  Doch Klima- und Umweltforscher, die sich auf harte Fakten berufen, wurden viel zu lange nicht ernst genommen. Humboldts Erben haben es auch heute noch schwer, in Zeiten, in denen Wohlstand als Argument gegen mehr Klimaschutz ins Feld geführt wird, wie jüngst von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). In Zeiten, in denen wütende Franzosen in gelben Westen für politischen Stillstand in Deutschland herhalten müssen.

  Selbst in Wirtschaftskreisen stößt diese Strategie des Kleinredens und Verzögerns zunehmend auf Unverständnis. Während die große Koalition in Berlin gegen ein Tempolimit und für den Diesel lobbyiert, eine CO&sub2;-Steuer als Sargnagel für die deutschen Wirtschaft gehandelt wird, sind viele Unternehmen längst weiter. Sie haben verstanden, dass von der Lösung der Klimafrage ihre wirtschaftliche Zukunft abhängt. Umwelt- und Wirtschaftspolitik werden nicht als Gegenpole verstanden, die sich abstoßen, sondern als Vehikel, bei dem Lenkung und Räder den Aufbruch in die Zukunft erst möglich machen.

  Dass sich die Nachkommenden nicht mit Floskeln abspeisen lassen, etwa der, dass man die Lösung der Klimafrage doch bitte den Profis überlassen möge, ist erwartbar. Die Protestbewegung, die Schüler und Studenten mit den Fridays for Future losgetreten haben, nimmt weiter an Fahrt auf, und das ist gut so. Tausende Wissenschaftler formieren sich inzwischen in Scientists for Future, gut 300 Firmen sind mit den Entrepreneurs for Future dabei.

  Vor allem kleine und mittelgroße Firmen wollen sich nicht länger von großen Wirtschaftsverbänden wie dem BDI oder dem VDMA diktieren lassen, wie eine wirtschaftsfreundliche Umweltpolitik aussehen soll. Sie verlangen klare, faire und zukunftsgerichtete Rahmenbedingungen, an denen sie ihre Geschäftsmodelle ausrichten können. Bekannte Unternehmen wie der Senfhersteller Develey, die Bitburger-Brauerei, der Schokoladenhersteller Ritter oder die Spedition Große-Vehne wollen bereits bis 2022 klimaneutral wirtschaften. Sie haben sich wie Humboldt auf den Weg gemacht und stellen sich den Herausforderungen des Wandels, egal wie groß diese sein mögen. Die Politik sollte diesem Beispiel endlich folgen.

Zuerst erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 14. April 2019